Über die Superhelden unserer Zeit

VS: Hallo Pastor Marks. Willkommen hier in unserem Redaktionsbüro. Für das heutige Gespräch haben wir uns wieder ein merkwürdiges Thema ausgedacht. Was sagen Sie als Pastor dazu: Gibt es so etwas wie eine göttliche Vorherbestimmung, dass manche Menschen zu Superhelden werden?

MM: Na ja, das hängt wohl davon ab, was man unter „Superheld“ versteht. Ist damit ein Mensch gemeint, der durch eine besondere Leistung berühmt geworden ist? Ein Idol, das man in der Jugendzeit anhimmelt? Ein Bühnenstar, der vom Publikum den Riesenapplaus bekommt? Eine Autorität, zu der man ehrfurchtsvoll aufblickt? Wer ein Superheld wird, ist von anderen auch dazu gemacht worden. Das muss erstmal nichts mit göttlicher Vorherbestimmung zu tun haben.

VS: Aber Superhelden strahlen doch etwas aus. Sie faszinieren uns. Auch noch im Erwachsenenalter. Neulich war die Fußball-Europa-Meisterschaft. Tausende von Menschen waren in den Stadien, Millionen saßen vor den Fernsehern. Unter den Spielern erhalten die Superstars immer besondere Aufmerksamkeit. Sogenannte Weltfußballer wie Cristiano Ronaldo zum Beispiel. Manche sprechen von einem „Fußballgott“. Ihm mal auf der Straße zu begegnen, würde so manchen Fan zum Erzittern bringen.

MM: Ja, aus Ehrfurcht vor einer Größe, die uns zugleich klein und groß macht. Klein, weil man meint, ihm die Hand nicht reichen zu können – symbolisch gemeint, faktisch werden es sowieso die Bodyguards zu verhindern wissen. Und groß, weil sich in seiner Nähe eigene tiefe Sehnsüchte bemerkbar machen, der Traum, selbst auch so ein Großer zu sein. Projektive Identifizierung heißt das Fachwort dafür, ein psychischer Mechanismus, der zur Regulierung des Selbstwertgefühls dienen soll.

VS: Wer sind denn Ihre Superhelden, Pastor Marks?

MM: An einem Cristiano Ronaldo, Uwe Seeler, Boris Becker usw. würde ich ziemlich unberührt vorbeilaufen. Die Hall of Fame des Sports liegt mir fern. Anders die Hall of Fame der Musik. Wenn mir Elton John, Eric Clapton, Paul McCartney, Phil Collins oder andere große Musiker, auch aus dem klassischen Bereich, über den Weg laufen würden, bekäme ich schon eine Gänsehaut. Aber Superheld? Da wüsste ich jetzt keinen Namen zu nennen.

VS: Was halten Sie von der Rockoper „Jesus Christ Superstar“?

MM: Die Musik wurde ja von dem damals noch unbekannten Andrew Lloyd Webber geschrieben. Tim Rice hat die Liedtexte in Anlehnung an die Bibelerzählungen der letzten sieben Tage Jesu verfasst. Ein eindrückliches Werk, das ich gern mal live hören und sehen würde. Einige Songs daraus werden ja inzwischen auch immer wieder im evangelischen und katholischen Gottesdienst gesungen. Aber Sie stellen die Frage sicher aus einem anderen Grund.

VS: Was halten Sie davon, dass Jesus Christus als „Superstar“ bezeichnet wird?

MM: Der Titel klingt natürlich reißerisch. Hollywood lässt grüßen. Aber die Geschichte der Passion Jesu wird in der Rockoper nicht so dargestellt, dass man auf den Gedanken käme, Jesus mit Filmhelden wie Superman, Spider Man, Batman und wie sie alle heißen zu vergleichen. Man könnte fragen, ob der Titel ironisch gemeint ist. Denn rein historisch gesehen ist Jesus mit seiner Botschaft gescheitert. Sein Leben, Reden und Handeln für das Reich Gottes hat ihn ans Kreuz gebracht. Ist so einer ein Superheld?

VS: Aber dann gab es ja die Auferstehung. Jesus hat den größten Feind des Lebens, den Tod besiegt. Das ist doch allemal eine Heldenleistung, oder?

MM: Auf jeden Fall. Und da passt nun Ihre Ausgangsfrage, ob es so etwas wie eine göttliche Vorherbestimmung dafür gibt, dass Menschen zu Superhelden werden. Als Christen glauben wir, dass Jesus für uns der Christus, das heißt Gottes Sohn ist. Ein Mensch, der mit göttlicher Vollmacht gesegnet war, in ziemlich vollkommener Weise die unendliche Liebe Gottes verkörpert und unter die Menschen gebracht hat. In seinem Geiste ist sie bis heute leibhaftig erfahrbar. Ein Dauerbrenner. Und das war und ist, so glauben wir, keine Laune der Natur, sondern göttlicher Wille, Gottes Rettungsplan für die Menschheit und insofern Vorherbestimmung.

VS: Hat Gott so einen Masterplan auch für uns, für dich und mich?

MM: Ich glaube, dass Gott viel daran gelegen ist, dass wir unsere besonderen Gaben und damit auch Aufgaben im Leben erkennen. Manches ist uns vielleicht in die Wiege gelegt, anderes findet sich mit der Zeit. Meist sind es nicht wir selbst, die darauf aufmerksam werden. Dafür brauchen wir den anderen, dafür braucht der andere uns. Und wenn wir uns so gegenseitig zu erkennen geben, wo unsere besonderen Stärken liegen, können sie sinnvoll gefördert, trainiert und kultiviert werden. Und wenn dies im Sinne der Liebe und des Friedens geschieht, spricht nichts dagegen, dies mit einem göttlichen Masterplan in Verbindung zu bringen. Platt gesagt: Gott hat nur unsere Hände und unsere Füße zur Verfügung, um die Welt zum Guten hin zu verwandeln.

VS: Das hieße ja, wir alle sind potenzielle Superhelden?

MM: Ja, und das nicht deshalb, weil wir uns damit den Applaus eines großen Publikums abholen und berühmt werden wollen. Die Superhelden unserer Zeit sind für mich ganz andere Menschen: Der Mann, der seine demente Frau zuhause pflegt, weil er sie liebt und ihr vor dem Traualtar sein Versprechen gegeben hat, in guten wie in schweren Zeiten an ihrer Seite zu sein. Die Kapitänin, die Kopf und Kragen riskiert, als sie ihr mit Flüchtlingen überladenes Schiff trotz Verbot und Strafandrohung in den Hafen steuert. Die Ärzte und Krankenpflegenden, die in der Corona-Hochzeit Übermenschliches geleistet haben. Und viele andere mehr, die überhaupt nicht in Erscheinung treten.

VS: Ein großartiger Masterplan: Jede und jeder, möglichst bunt und unterschiedlich mit den individuellen Gaben und Aufgaben, so dass wir uns, wenn es klappt, sinnvoll ergänzen und gegenseitig unterstützen.

MM: Wenn (!) es klappt. Wenn da nicht immer wieder die Angst wäre, selbst zu kurz zu kommen, der Zweifel, minderwertig zu sein, der Neid, wenn ich sehe, was der andere hat oder kann, was ich nicht habe oder nicht kann. Wir alle brauchen sie, die Vorbilder, die Idole, die Lehrerinnen und Lehrer, bei denen wir etwas finden von dem, was wir selbst als erstrebenswert und lebenswert erachten. Aber sie dürfen uns auch nicht im Wege stehen, wenn es darum geht, die eigenen Stärken zu entdecken, zu achten und an den Start zu bringen. Jeder Mensch ist einzigartig, nicht kopierbar. Auch das gehört zu Gottes Masterplan.

VS: Schön zu wissen, dass sich einer etwas dabei gedacht hat. Aber diese Einzigartigkeit ist damit ja auch eine Bürde: Wenn ich nicht wie alle bin. Wenn ich es wage, Ich zu sein, und damit nicht der Mehrheitsmeinung entspreche. Wenn ich mal wieder anecke, ablehnende Blicke und Gesten ernte, weil ich zu mir und meinen Überzeugungen stehe. Wie soll man damit umgehen?

MM: Niemand lebt nur für sich selbst. „Ich ist ein Anderer“ lautet das Credo des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas. Er meint: Wenn ich wissen will, wer ich bin, tue ich gut daran, dem Anderen mein Ohr, meinen Blick, mein Herz zu öffnen. Er liest mir quasi vor, was bei mir über die Rampe kommt. Vor allem auch die Dinge, die ich nicht gern sehen will, die ich aus bestimmten Gründen ausblende und verdränge. Das hat Gott mit seiner Liebe schon prima eingerichtet: Wir sind aufeinander angewiesen, wenn es so etwas wie Freiheit und Wahrheit in dieser Welt geben soll. Das Recht, meine eigene Einzigkeit zu leben, setzt voraus, dass ich bereit und fähig bin, dem Anderen das gleiche Recht zuzugestehen. Das ist uns nicht in die Wiege gelegt. Das will gelernt sein: die Kunst des Liebens.

VS: Da kommt mir gerade ein Satz in den Sinn, den ich neulich irgendwo gelesen habe. Er stammt, glaube ich, auch von einem Philosophen. Ich weiß nicht, ob ich ihn zusammenkriege: „Jegliches Gesicht, das in das Deine blickt, sieht nichts von sich selber Verschiedenes, weil es seine eigene Wahrheit sieht. …“

MM: „ … Wer Dich also mit liebendem Blick anschaut, der fühlt Deinen Blick liebevoll auf sich gerichtet. Und mit je größerer Liebe er Dich anzublicken strebt, um so liebevoller wird Dein Blick ihm entgegenleuchten.“ Nikolaus von Cues.

VS: Vielen Dank, Pastor Marks, für das interessante Gespräch.

MM: Immer wieder gern. Ich danke auch.

Matthias Marks