Rave in Rahlstedt

Schon im März hatten wir vom Rahlstedter Freiluftclub gehört. Aber den ersten Lockdown ließen wir den Freiluftclub Freiluftclubsein. Stattdessen plünderten wir die Kleiderstangen des örtlichen Kostümverleihs: Dirndl und Lederhose fürs Oktoberfest, Förster, Krankenschwester und das Mauerset – wir nahmen alles mit. Zu Hause verkleideten wir uns, setzten uns aufs Sofa und ließen es langsam angehen. Zündeten Kerzen an, genossen das schöne warme Licht und machten Selfies. Einmal nutzten wir das Kerzenwachs zum Enthaaren. Da trugen wir biblische Kostüme.

Aber der Mensch will raus. Und meine alte Stadtteilfreundin Frau Engelmann sagte, sie hätte schon so lange nichts mehr erlebt. Und sich nur noch mit ihren Hühnern zu unterhalten, das sei nichts. Als die Pandemiegebote sich im Juli etwas lockerten, erzählten wir ihr vom Freiluftclub und nahmen sie mit dorthin.

Nach Einbruch der Dunkelheit gingen wir gemeinsam durch den undurchsichtigen Wald zur halbversumpften Wiese am Flüsschen, die im Rahlstedter Ortskern liegt. Seltsamerweise ist das alles bislang von den verschiedensten Bauprojekten unberührt geblieben. Hier leben viele Sträucher und seltene Insekten. Hundebesitzer freuen sich ohne Gassibeutel unterwegs sein zu können, denn die Sträucher wachsen hoch und Hinterlassenschaften sind kaum zu entdecken. Diesen Vorteil nutzen auch die Kunden des Fastfoods hinten an der Schnellstraße, der mit dem Tankstellengebäude verschmolzen ist. Auch die lokale Drogenszene ist vertreten. Und so laufen wir zwischen Hundekot, alten Styroporverpackungen und Spritzen herum und folgen dem Beat.

Als wir auf die Wiese treten, vibriert der Boden und Frau Engelmann sagt: „Das hier ist ein wichtiges Biotop! Hier brütet die Rohrdommel.“

Fluorierende Bänder markieren den Platz für die Tänzer. Ein leuchtendes Gitter liegt über der gesamten Wiese. Bunte Masken überall.

„Aber es ist Juli“, sage ich. „Hier brütet nichts mehr.“ Meine Frau nickt. Sie ist Ornithologin. Ich weiß nicht, ob sie mich richtig versteht mit meiner Maske. Man versteht sein Gegenüber nicht so gut. Aber ich verstehe, dass meine Frau tanzen will.

Wir wippen im Rhythmus. Wir bewegen uns wie Katzen auf dem heißen Blechdach. Jeder in seinem Tanzquadrat.

„Ja, das ist gut! Sofort anfangen, wenn man kommt!“, sagt einer der jungen Tänzer neben uns. „Denn später kommt immer die Polizei.“

Die Wiese füllt sich immer mehr. Ich rieche Haschisch. Ein Mann geht mit einer Blechbüchse herum. Er sammelt Geld für die DJs. Die stehen im Zentrum der Tanzenden an einem portablen DJ-Set.

„Ich habe früher gerne den Elvis gehört“, sagt Frau Engelmann. „Das war auch so schöne Musik.“ Sie winkelt die Arme an und dreht ihren Oberkörper nach links und rechts.

Nach einer ganzen Weile holen wir uns Energiedrinks beim Fastfood an der Schnellstraße. Meine Frau und ich sind so alt, dass wir keine anderen Drogen mehr brauchen. Von Frau Engelmann müssen wir gar nicht reden. Die jungen Tänzer trampeln mit nicht nachlassender Energie die Wiese platt.

„Wir sind das Zentrum des Universums!“, brüllt mir ein Raver ins Ohr. „Alles gruppiert sich um uns herum!“ Ich nicke und tanze wieder. Meine Frau tanzt neben mir und auch Frau Engelmann wiegt sich rhythmisch auf der Wiese. Über uns die Sterne.

Doch schon bald funktionieren unsere Beine nicht mehr. Es ist anders als vor 25 Jahren. Auch unsere Lungen fühlen sich an, als seien sie perforiert und verlören Luft auch ohne dass wir ausatmen. Da hilft kein Energiedrink. Unsere Masken sind durchgeschwitzt, wir stellen uns an den Wiesenrand. Dort ist es ein wenig leiser.

„Weißt du noch“, frage ich meine Frau, „wie wir in den zu Clubs umgebauten Etablissements auf dem Kiez getanzt haben. Wo die Pufftapeten noch an den Wänden hingen und überall waren Separees, in die man sich fleezen konnte - aber statt Schaumwein gab es nur noch Flaschenbier und auf der winzigen und aus Spiegeln bestehenden Tanzfläche tanzten keine Nackten mehr!? Die Fläche war noch kleiner als die Tanzquadrate hier!“

„Weißt du noch“, fragt mich meine Frau, „wie du an Carolas Hals hingst, als du ich-weiß-nicht-wie-viele Tequila Sunrise getrunken hattest damals im U-Bootbunker? Und wie ich mit dir Schluss gemacht habe deswegen. Aber später kamen wir wieder zusammen und dann war es besser.“

„Lange her“, sage ich. „ECHT lange her!“ Und ich erinnere mich daran, dass ich in einer dieser Subkulturkneipen die schweißige Achsel von Ilona leckte, das war die Freundin, die ich hatte, als meine Frau mit mir Schluss gemacht hatte. Würde ich heute nicht mehr machen, denke ich.

„Wollen Sie noch mal tanzen?“, fragt Frau Engelmann.

„Gerade nicht“, antworten wir. Und so lehnen wir an alten Baumstämmen und beobachten, wie sich schwarze Silhouetten rhythmisch vor dem heller erscheinenden Waldhintergrund bewegen. Immer wieder setzt die Musik sekundenlang aus. Sei es, weil das Stromaggregat schwächelt, sei es, weil einer der Raver in die Anlage getanzt ist.

In einer dieser Pausen stößt mich meine Frau an: „Hör mal! Da! Eine Rohrdommel.“ Frau Engelmann, ich, meine Frau - wir lauschen. Ich gucke über das fahle Schilfgras in Richtung Schleswig-Holstein, von wo der neue Tag heraufdämmern wird. Sanft wird das jungfräuliche Licht durch den Wald scheinen und sich auf die Weiden am Flüsschen legen. Aber eine Rohrdommel kann ich beim besten Willen nicht hören, dazu sind die Polizeisirenen zu laut. Blaues Licht flackert zwischen den Stämmen.

Als die ersten Polizeiwagen auf die Wiese fahren und über Megaphon verkünden: Die Wiese wird geräumt! Hier brütet die Rohrdommel nimmt mich meine Frau am Arm und pfeift mir den Ruf des Vogels ins Ohr. Ja, jetzt höre ich sie doch, die Rohrdommel. Um mich herum ist es hektisch, Flüchtende, Polizisten, die uns anrempeln, und dann dieses zarte Pfeifen, wie ein milder Tinnitus. Ich denke: Meine nächste Anschaffung wird ein Hörgerät sein. Im Durcheinander verlieren wir Frau Engelmann. Aber sie ist alt genug. Sie wird alleine zurück nach Hause finden.

„Ich bin müde“, sage ich zu meiner Frau. Sie zieht mich stärker an sich. „Bald sind wir zu Hause“, sagt sie. „Folge nur dem Ruf der Rohrdommel.“

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Alexander Posch