Gogols Jahresübertritt

für Jürgen Noltensmeier

Nikolai Gogol (1809 – 1852) war einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller, der zwischen 1836 und 1848 immer wieder nach Westeuropa reiste. War er 1836, als er sich einen Monat in Hamburg aufhielt, auch in Rahlstedt? Eher nicht.

'Zwerg Nase' nennt ihn die freche Tochter von Blomenbeet. Sie hüpft um ihn herum. Die beistehenden Hanseaten reagieren kaum. Sie wirken wie tote Seelen, aber Gogol weiß, dass sie ihm auf den Zinken schauen. Sie starren nicht direkt, aber sie verfolgen jede seiner Regungen über die verspiegelte Wand oder in der Spiegelung ihrer Champagnergläser. Gogol hasst seine lange, spitze Nase. Diesen Hass muss die kleine Blomenbeet nicht auch noch befeuern, denkt er. Vor ihm stehend reibt sie ihre ausgestreckten Zeigefinger. Man müsste sie ins Feuer werfen, so wie misslungene Manuskripte.
Im Kopf schreibt Gogol weiter an seinen kleinrussischen Dorfgeschichten, in denen der Teufel mit den Menschen tanzt.
Der Hausherr nickt ihm zu. Blomenbeet ist ein hanseatischer Spekulant, der aus nichts alles macht, nämlich: viel, sehr viel Geld. Blomenbeet mag diesen zarten, krumm gewachsenen, dünnen, russischen Schriftsteller mit der schlechten Haut. Er hatte ihn am Hafen getroffen und ihn eingeladen, den Jahreswechsel mit ihm zu feiern. Was für ein Mensch, freut sich Blomenbeet.

Gogol fehlt ein passender Mantel für seine Reise ins Ausland. Seit er aus Petersburg abgefahren ist, trägt er immer nur seinen dicken Schaffellmantel, der für den russischen Winter gemacht ist. In diesem Mantel schwitzt er gewaltig. So hat er ihn auch auf den windigen Hamburger Kais offen gelassen und wie eine über die Schultern geworfene Decke getragen. Aber Wind und der Hamburger Fisselregen durchfeuchteten ihm sein Hemd bis auf die Haut und seit Tagen läuft seine Nase ununterbrochen. Gogol niest und fuhrwerkt sich mit einem überdimensionierten Taschentuch im Gesicht herum.
In einer Ecke der, auf drei Seiten getäfelten, Halle spielt ein Pianist Suiten von Dietrich Buxtehude. Man sieht den Atem des Musikanten, denn der Raum ist nicht geheizt. Der Pianist wird von einem mürrischen Streichensemble begleitet. Gogol empfindet die Musik als dünn und depressiv. Wenn er niest oder seine Nase tupft, drehen ihm seine direkten Nachbarn ihre Rücken zu. Gogol bewegt sich durch die Gesellschaft der Versammelten. In Gedanken erfindet er eine über Generationen zerstrittene Familie Blomenbeet. Der Kaufmannssohn wird vom Vater verstoßen. Er flieht in den Wald und muss dort unzählige Abenteuer (Räuber, wilde Tiere, Naturunglücke) bestehen. Das alles gelingt ihm mit Hilfe von Alisa, einer vermeintlichen Prinzessin, die sich am Ende als verwandelte Schlange herausstellt. Der Kaufmannssohn wirft die Schlange ins Feuer. Gogol lächelt.
Zwei Frauen in teuren holländischen Spitzenkleidern stellen sich Gogol in den Weg und binden ihn in ihre Unterhaltung ein. Sie sprechen französisch und schimpfen über das Personal, das zu nichts taugt. Dann schimpfen sie über den Ausbau des Hafens, der das gesamte Hamburger Leben durcheinanderbringt. Und schließlich über die Ausländer, die in Scharen in die Stadt kommen. Gogol fühlt sich auf den Petersburger Heumarkt oder auf den Markt von Dikanka versetzt, wo die Marktfrauen tratschen und schimpfen. Zwei Männer, wahrscheinlich die Ehemänner der Frauen, treten hinzu. Sie nicken, aber Gogol kann ihren Groll auf ihn als Ausländer spüren. Der eine stellt sich als Arzt vor. Er würde Gogol am nächsten Morgen gerne zu einigen Tests mit Hülsenfrüchten in seine Praxis bestellen, sagt er.
„Hülsenfrüchte?“, fragt Gogol.
„Ja. Erbsen“, sagt der Arzt.
„Nein, vielen Dank“, erwidert Gogol. Er empfiehlt sich und schlendert wieder durch die eisige Halle.
Dann schlägt ein Bediensteter die große Glocke, zwei Flügeltüren in den Esssaal werden geöffnet und die Versammelten gehen hinüber.
Gogol ist ein üppiger Esser. Seine Magensäure war ihm während der Unterhaltung mit den beiden Damen wiederholt die Speiseröhre hinaufgestiegen. Das liegt an der Mischung aus Champagner und Zwieback, die man in der Halle gereicht bekommen hatte. Nun wird man in den Saal geführt, man wird am Tisch plaziert und dann wird Käsepampe aufgetragen. Halbgeschmolzener Käse mit Gewürzgurken und Hering, Gogol ist angewidert. Das Essen zieht sich. Gogol drängt die Säure seines rebellierenden Magens mit viel Käse zurück. Aber er muss immer wieder aufstoßen.
Als das Essen abgeräumt wird, kommen spät noch einige junge Gäste an die Tafel. Ihnen folgt das Streichensemble. Auch das Klavier wird hereingerollt. Die Musik beginnt und sofort tanzen die jungen Menschen. Sie wiegen sich in den Hüften. Gogol hatte gehört, dass im Hause Blomenbeet ausschließlich alte Musik gespielt wird. Die jungen Menschen tanzen ausgelassen. Setzt das Ensemble einmal zu einem romantischen Stück an, ist sofort einer der Jungen bei den Musikern und macht deutlich, dass man sich jeglicher neuer Musik verweigert. Gogol kennt alle gespielten Stücke, alles alte Hüte. Als er gerade unauffällig in sein Taschentuch rülpst, tritt sein Gastgeber Blomenbeet vor die Musiker. Er stellt den russischen Dichter vor und hebt sein Glas und dann wird zu Gogols Ehren ein altrussisches Lied gespielt. Gogol wundert sich, dass die jungen Menschen mitsingen. Das Ensemble lässt noch die Petersburger Hymne und das Lied von Stenka Rasin erklingen, dann packen sie hastig zusammen. Plötzlich ist es hektisch. Alle Gäste werden um die, in die Mitte des Saales verschobene, Tafel gruppiert, auf der ein Dutzend kostbarer Porzellanschüsseln verkehrt herum aufgereiht steht. Schnell wird jedem ein Champagnerglas in die Hand gedrückt. Dann zünden Diener gleichzeitig die unter den Schüsseln herausragenden Lunten und huschen Schutz suchend unter den Tisch. Zwölf Schüsseln explodieren und lassen Scherben regnen. Spiegel bersten. „Prost Neujahr!“ brüllt Blomenbeet in den Qualm und das Stöhnen.
Als wieder die alte Musik gespielt wird und die Jungen tanzen, denkt Gogol, dass die Jungen in Hamburg offensichtlich die Musik der Altvorderen lieben. Das hat es zu meiner Zeit nicht gegeben. In Petersburg, in Paris und in Rom, überall wohin ich bislang gereist bin, ist die Jugend dabei, sich neu zu erfinden: Neue Frisuren, Kleider, Musik. Nur hier in Hamburg nicht.
Gogols Kopf surrt vom Trinken, in seinem Magen liegt ein Käsefels. Eilig verabschiedet er sich und zieht sich auf sein Zimmer zurück. Er schlüpft zu der im Bett eingerollt liegenden, warmen, gefleckten Katze.

Als Gogol am folgenden Mittag erwacht, spielt eine andere Katze, eine schwarze mit weißen Pfoten, die auch ganz warm ist, mit den Tropfen, die aus seiner Nase fallen. Er klaubt sein Taschentuch hervor und denkt, es ist Zeit aufzubrechen.

Alexander Posch