Prozessionsspinner

Es klingelt, inzwischen habe ich aufgehört mitzuzählen. Adventszeit. Ich öffne dennoch die Tür, und vor mir steht ein magerer Mann. Er wirkt grau wie ein Buchenblatt vom Vorjahr. Hinter ihm auf dem Bürgersteig steht ein Lama, dessen Rippen ich zählen kann. Er erinnert mich an Charlie Chaplin und Buster Keaton und an all die anderen Zirkusmenschen, die ich in meiner Kindheit bewunderte und von deren prekärem Aufwachsen ich erst als Erwachsener erfuhr. Ich drücke dem Mann zehn Euro für das Winterquartier in die Hand. Überschwänglich bedankt er sich und ich bin unschlüssig, ob ich mir seine Dankbarkeit verdient habe.
Kaum sitze ich wieder auf dem Sofa, da klingelt es erneut. Bevor ich öffne, nehme ich einen Zehn-Euro-Schein aus dem Portemonnaie. Vor der Tür steht Wuttke, der Studienfreund meiner Frau.
„Ich dachte, es sei jemand vom Zirkus“, begrüße ich ihn.
„Nicht ganz“, sagt er. Wuttke hatte uns im Frühjahr wegen der Nacktschneckenplage beraten. Aber seine Tipps halfen nicht. Meine Frau kommt in den Flur.
Zu dritt gehen wir in den Garten, folgen den Schneckenschleimspuren. Der Garten ist grau wie der Lamamann. Nur der Schuppen schimmert blau, und neben der Tanne hängen rosarote Früchte im Geäst. Wuttke doziert: "Seht, da leuchtet das Pfaffenhütchen! Die Pflanze ist giftig, die Griechen meinten, dass die Blüten nach Mord riechen, die Früchte jedoch, die sind die Lieblingsspeise von Rotkehlchen und anderen Vögeln."
„Manche nennen den Baum deshalb auch Rotkehlchenbrot“, ergänzt meine Frau, die als studierte Ornithologin die eigentliche Fachperson ist.
„Krass“, sage ich, um mich irgendwie am Gespräch zu beteiligen. Meine Frau und Wuttke gucken mich an. „Wirklich krass, das mit dem Brotbaum“, sage ich. Vorsichtig fasst Wuttke in die Tanne und legt eine Zweigspitze auf seine flache Hand, so als führe er den Zweig zur Tanzfläche.
„Diese Tanne ist außerordentlich zartnadelig und formschön“, sagt er. Meine Frau lächelt stolz, so als sei sie verantwortlich für diese Zartheit.
„Ich dachte, du bist eher sowas wie ein Schneckentyp“, sage ich zu Wuttke.
Da hustet etwas neben dem Schuppen. Etwas hechelt direkt beim Kompost. Es hört sich an, wie ein Obdachloser mit Raucherhusten.
„Oh, ihr habt Igel“, sagt Wuttke. „Habt ihr ihn gehört, den Igel?!“
„Ich bin weder ein Schnecken- noch ein Komposttyp“, sage ich. „Lieber nutze ich die Grüne Tonne.“
Es klingelt. Diesmal ist es Frau Engelmann. Mit ihr gehe ich zu den anderen in den Garten.
„Ich helfe Frau Engelmann mal mit den Kostümen“, sage ich. Seit Jahren bessert sie die Kostüme für die Prozessionsteilnehmer aus. Sie flickt Löcher und geplatzte Nähte.
„Kostüme? Wofür?“, fragt Wuttke. Ich erzähle ihm von der Prozession.
„Und mein Mann wird, wie ein Baby im Körbchen liegend, durch die Straßen getragen“, sagt meine Frau und lächelt. Wuttke schüttelt den Kopf, Frau Engelmann nickt.

„Und zwischen den Besuchen immer wieder tote Zeit“, sagt Frau Engelmann auf dem Weg zu ihr. Ich denke, dass meine Frau jetzt mit Wuttke im Garten ist und dass die beiden sich über das Igelhecheln amüsieren. Ich hoffe, Frau Engelmann wird mich auch heute mit ihren Geschichten unterhalten und auf andere Gedanken bringen.
In ihrem Wohnzimmer reicht sie mir die ausgebesserten Kleidungsstücke zur Anprobe. Die Prozession, sie ist unsere Stadtteilversion des Weihnachtsmärchens. Sie ist ein Überbleibsel aus der Nachkriegszeit, als sich hier eine Flut von katholischen Schlesiern ansiedelte. In diesem Jahr bin ich das Kindjesulein. Ich werde nackt in einem großen, runden Bastkorb liegen, eingerollt wie ein menschlicher Igel. Den Korb tragen vier Männer aus dem Sportverein. Der Korb ist mit Schaffell ausgelegt. Aber auch mit Schaffell ist es draußen auf den Straßen sehr kalt. Deshalb trainiere ich seit Ende Oktober täglich zwei Stunden im Garten. Nackt kuschle ich mich an das Pfaffenhütchen und sehe den Rotkehlchen zu.
Im letzten Jahr hatte noch der adipöse Hans-Peter Webknecht die Rolle des Herz Jesulein gespielt, aber Hans-Peter ist im Frühjahr an Corona gestorben.
„Zieh dir doch wenigstens den Pyjama an“, forderte meine Frau den ganzen November über.
„Stör mich nicht. Ich trainiere“, antwortete ich ihr.

Als ich Frau Engelmann verlasse, habe ich wieder Rückenschmerzen. Die kommen bestimmt vom Körbchenliegentraining. Deswegen wollte ich schon länger zum Arzt. Also mache ich einen Schlenker zur Praxis in der Fußgängerzone. Die Sprechstundenhilfe am Tresen sagt, ich soll mich im Behandlungszimmer auf die Liege legen und warten. Das Behandlungszimmer ist ein Rigipskabuff, kaum größer als die Liege. Ich höre alles, was in der Praxis passiert. Eine halbe Stunde, vierzig, fünfzig Minuten vergehen. Ich muss an das Igelstöhnen in unserem Garten denken.
Ich denke mir eine Geschichte aus, um endlich von dem Igelstöhnen wegzukommen. Gehe mit einer unbekannten Frau in deren Wohnung. In der Küche liegt ein gestreifter Pyjama unter dem Tisch. Als wir uns mit einem Glas Wein gesetzt haben, betritt ein nackter Mann die Küche. Der Mann murmelt unverständlich. Die Frau geht zu ihm, streicht ihm über den Kopf und hilft ihm, den Pyjama anzuziehen. „Mein Bruder“, sagt sie. „Er ist leider sehr krank.“ Sie führt den Mann aus der Küche. Ich blicke in das Glas, nippe am Wein. Er schmeckt metallisch. Plötzlich steht eine alte Frau neben mir. Sie streichelt mir lange zärtlich über den Kopf, wie bei einem kleinen Kind. Die Alte sagt etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. „Meine Mutter mag dich“, sagt die Frau, die in die Küche zurückgekommen war, während die Alte mich streichelte. „Du bist wie ein Hündchen.“
Meine Geschichte gefällt mir nicht. Ich schüttele mich. „Hallo?!“, rufe ich. „Ist da jemand?!“ Da niemand antwortet, verlasse ich das Kabuff. Die Praxis ist leer, der Tresen verwaist. Es ist dunkel, als ich die Fußgängerzone betrete. Alle Geschäfte sind bereits geschlossen. Bin ich auf der Liege eingeschlafen, überlege ich.

Auf dem Gehweg vor unserem Eingang liegt Lamakot. Im Haus brennt kein Licht. Wie in der Arztpraxis erhalte ich keine Antwort auf mein Rufen. Schließlich putze ich mir die Zähne. Als ich ins dunkle Schlafzimmer trete, knipst meine Frau ihre Leselampe an. Sie liegt im Bett und lächelt. „Huschhusch, ins Körbchen!“, sagt sie und schlägt ihre Decke zurück.

Alexander Posch