Kann man sich‘s heute noch leisten, fromm zu sein?

MM: Eine komische Frage. Aber aktueller, als man vielleicht denkt. Kaum jemand wagt heute noch von sich selbst zu sagen, dass er fromm ist. Und wer von anderen als fromm bezeichnet wird, sollte nicht allzu sicher davon ausgehen, dass ihm damit etwas Gutes nachgesagt wird.

VS: Woran liegt das?
MM: Viele denken wohl, fromme Leute leben weltfern, sind religiös verbohrt oder abgedreht. Sie beten den ganzen Tag und vergessen dabei die Realität. Aber das sind oft Vorurteile. Fromm-Sein bedeutet eigentlich nur, dass ein Mensch an Gott glaubt, sich dazu bekennt und seine Religiosität kultiviert, sei es allein oder in einer Gruppe, in welcher Form und Intensität auch immer.

VS: Aber ist es nicht eigenartig, dass ‚Frömmigkeit‘ heute bei vielen so negativ klingt?
MM: Ja, fast so, als müsste man sich dafür schämen. Oder befürchten, damit in eine fundamentalistische Schublade gesteckt zu werden. ‚Fromm-Sein‘ ist out. ‚Spirituell-Sein‘ ist heute der Trend.

VS: Was ist da eigentlich der Unterschied?
MM: Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Viele, die sich als ‚spirituell‘ verstehen, verbinden gefühlsmäßig damit mehr Offenheit, Beweglichkeit, Körperlichkeit und individuelle Bedürfnisbefriedigung. Dagegen löst der Begriff ‚fromm‘ sofort unangenehme Vorstellungen aus: einengend, rückwärtsgewandt, rigide, keusch, spießig usw.

VS: Und? Ist da was dran?
MM: Es ist schwierig, wenn sich die Bedeutung eines Begriffs im Laufe der Zeit durch allerlei Zeug, was ihm angedichtet wird, in eine bestimmte Richtung verschiebt. Ähnlich ist es ja mit dem Begriff der ‚Sünde‘, der heute total ins Moralische verzerrt erscheint. Dann hilft vielleicht nur noch, dass man diesen Begriff die nächsten 100 Jahre nicht mehr ausspricht, damit er wieder frei wird für seinen ursprünglichen Sinn. ‚Frömmigkeit‘ hat ursprünglich jedenfalls nichts mit Starrheit, Keuschheit und Spießigkeit zu tun.

VS: Ist die Tradition vielleicht das Problem?
MM: Das könnte wohl sein. Unser Umgang mit ihr ist ja ambivalent. Einerseits brauchen wir sie, um uns auf unsere Wurzeln zu besinnen, wenn wir unsere Zukunft gestalten wollen. Sören Kierkegaard hat es schön ausgedrückt: „Das Leben wird nach vorwärts gelebt, aber nach rückwärts verstanden.“ Andererseits soll die Tradition uns nicht bevormunden. Gerade wir Menschen in den westlichen Kulturen sind da ja sehr empfindlich.

VS: Sie meinen, Frömmigkeit wird heute vorschnell mit Traditionsgläubigkeit gleichgesetzt.
MM: Ja, leider im negativen Sinne: die Tradition erscheint als Autorität, von der man meint, sich abgrenzen zu müssen, um auf die eigenen Beine zu kommen – eigentlich ein pubertäres Verhalten. Das Reifen der Persönlichkeit sollte ein Reifen der Religiosität mit sich bringen. Ich kann und will auf die Tradition nicht verzichten. Mein Glaube kann nur im Gespräch mit ihr lebendig bleiben. Wenn ich zum Beispiel in einer bestimmten Situation ein Gebet sprechen möchte, aber gerade selber keine Worte finde, sei es aus Kummer, Angst, Wut oder in Trauer um einen lieben Menschen, dann bin ich froh, dass es in der Bibel die Psalmen gibt. Das sind Gebete von Menschen, denen es einmal so ähnlich ging. Ich kann sie mir leihen. Sie sprechen mir aus dem Herzen und ich fühle mich von ihnen getragen.

VS: Wie passt das zu dem heutigen Spiritualitäts-Boom? Es gibt ja viele, die sich als ‚spirituell‘ bezeichnen, aber nicht (mehr) in der Kirche sind. Angeblich, weil sie dort nichts (mehr) für sich finden. Macht Sie das als Pastor nicht nachdenklich?
MM: O doch! Mir kommt es manchmal so vor, als stünde das Christentum in unseren Breiten vor einer tiefgreifenden Zeitenwende. Der Spiritualitäts-Trend ist Ausdruck einer großen Suchbewegung. Wenn das Vertraute verlorengeht und Neues noch nicht in Sicht ist, schwebt der Mensch in einem Zwischen-Raum, wo er kreativ wird und verschiedenes ausprobiert. Da wird die Tradition schnell als hinderlich empfunden. Spirituell sein kann man auch ohne Bibel und Jesus.

VS: Spiritualität als Markt der Möglichkeiten?
MM: Gewissermaßen ja. Die Welt ist kleiner geworden. Die Medien öffnen uns Fenster, die unseren Eltern noch verschlossen waren. Die Menschen sind neugierig, fasziniert vom Fremden, zumindest solange die erschreckende Seite ihnen nicht zu nahe rückt. Spielerisch verbinden sich innere Bilder und äußere Bilder zu etwas Neuem. Der Spiritualitäts-Trend ermöglicht die Entstehung von Religions-Hybriden.

VS: Und warum springt die Kirche nicht auf diesen Zug auf?
MM: Seit Ende der 1990er Jahre versucht sie es ja schon. In unserem Kirchenkreis Hamburg-Ost gibt es zum Beispiel das „Projekt Spiritualität“. Unter der Überschrift „Meditation – Kontemplation – Innere Orientierung“ wird dort allerhand angeboten: Herzensgebet, Exerzi¬tien, Persönlich¬keitsarbeit in Seminaren zu kreativem Schreiben, Tanzen, Pilgern, Schweigen und andere Ritu¬ale und Themen. Es ist natürlich christlich orientiert. Trotzdem wirkt es wie ein Einsiedler. Die meisten Ortsgemeinden sind zurückhaltend, sich für neuere Formen von Spiritualität zu öffnen.

VS: Und deshalb verbreitet sich die Meinung, dass in der Kirche nichts Neues passiert?
MM: Vielleicht ja. Aber teilweise zu unrecht. Wir als Kirche betrachten die heutige Spiritualitäts-Bewegung auch kritisch. Wo überall wird der Begriff heute verwendet: in der Psychologie, in der Quantenphysik, in der New-Age-Bewegung und Esoterik, in der Gesundheitsforschung. Überall bedeutet er etwas anderes. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber wenn in der Diskussion darüber, was jeweils gemeint sein soll, nur das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Offenheit laut wird, Spiritualität nur als Protestbegriff gegen vermeintlich kirchliche Starrheit verwendet wird, dann ist das zu wenig.

VS: Was bedeutet Spiritualität in der Kirche?
MM: Der Begriff ist vom lateinischen ‚spiritualis‘ abgeleitet und bezeichnet den vom Geist Gottes erfüllten und geleiteten Menschen. Also den Heiligen Geist. Als Christenmenschen glauben wir im Anschluss an die biblische Pfingstgeschichte, dass er (oder sie oder dies) der Urheber, Erhalter und Erneuerer unseres Glaubens, der Gemeinde und der Kirche ist. Dazu gehört alles, was im Sinne Jesu in ihr geschehen kann und soll: Trost, Vergewisserung, Ermutigung, Vergebung, Versöhnung, Nächstenliebe, Heilung an Leib und Seele im weitesten Sinne.

VS: Und warum sucht man spirituelle Befriedigung dann außerhalb? – und nicht (mehr) in der Kirche?
MM: Das frage ich mich auch. Potenziell ist alles da. Deshalb glaube ich, dass die heutige Krise der Kirche keine Systemkrise, sondern eine Resonanzkrise ist: Da liegt ein Schatz, aber immer weniger Menschen wissen davon. Da liegt ein Geschenk, aber keiner will es haben. Gott in der Liebesfalle.

VS: Was heißt das für die Zukunft der Kirchengemeinde hier bei uns in Rahlstedt?
MM: Nun bin ich erst seit einem Jahr hier und lerne noch. Mein bisheriger Eindruck ist, dass hier die Kirche noch ‚im Dorf‘ steht. Für viele ist sie ein Stück ‚Heimat‘, ein wichtiger Ort der Begegnung mit Menschen, die das Leben lieben, Freude und Leid miteinander teilen und das Gespräch über Gott und die Welt suchen. ‚Kirche in der Nähe bei den Menschen‘, also ihre diakonische Ausrichtung, ist eine gute Basis für ihre Zukunft. Und wenn wir aus der Kirchengeschichte lernen wollen, so gibt es immer wieder Zeiten, in denen die Wurzeln dafür in der Mystik gefunden werden. Man legt wieder Wert auf die Innerlichkeit des Glaubens, die persönliche Gottesbeziehung. Und das ist etwas sehr Kostbares und Verletzliches. Da lässt man sich nicht von allgemeingültigen Glaubensaussagen vereinnahmen und mit kirchlichen Üblichkeiten abspeisen. Da möchte man mit dem eigenen Glauben ernstgenommen werden.

VS: Und ist man dann ‚fromm‘ oder ‚spirituell‘?
MM: Beides!

VS: Danke, Pastor Marks, für das Gespräch.
MM: Immer gern.

Matthias Marks