Ist Corona eine Strafe Gottes?

(MM) Corona hat ja viele existenzielle Fragen aufgeworfen. Interessant finde ich, dass dazu auch diese Frage gehört, und zwar nicht nur in frommen Kreisen. Auch Menschen, die von sich selber sagen, dass sie mit Kirche und Religion nicht viel am Hut haben, machen sich Gedanken darüber. Das zeigt: Religion – oder wie auch immer wir den Bezug zum Göttlichen nennen wollen – ist keine Sonderwelt, die man hat oder nicht hat.

Wenn es im Leben um die Wurst geht, kommen unsere elementarsten Anliegen zum Vorschein und wir fragen nach einer höheren Macht: „Ist da jemand, der es gut mit mir meint? Der uns in dieser Krise beschützt? Der Corona die Stirn bieten kann?“ Aber dieses Ausgreifen über uns selbst hinaus kann auch noch andere Gründe haben. Wir Menschen tun uns leichter, mit einer solchen Krise klarzukommen, wenn es einen Schuldigen gibt, der dafür bestraft werden kann. Corona ist unsichtbar. Wem soll die Strafe gelten? Und dann kommen archaische Bewältigungsmuster ins Spiel: Gott als Richter schickt Corona, um die Bosheit der Menschen abzustrafen. Eine gereifte Religiosität sieht anders aus.

(VS) Naturereignisse als Strafe Gottes zu verstehen – dafür liefert die Bibel ja schon krasse Beispiele.

(MM) Vielleicht denken Sie an die Sintflutgeschichte (1. Mose 7). Sie wird so erzählt, dass Gott die Bosheiten, die die Menschen auf der Erde anrichten, nicht länger ertragen will. Er bereut sogar, dass er die Menschen überhaupt geschaffen hat. Und weil er keine Chance sieht, dass sie sich bessern, macht er Tabula Rasa. Nur Noah mit seiner Familie bleibt bewahrt und mit ihm auf seiner Arche jeweils ein Paar von allen Tieren. So ist wenigstens die Möglichkeit gegeben, dass das Leben neu weitergehen kann.

(VS) Aus dem Konfirmandenunterricht weiß ich noch, dass in der Bibel von Plagen die Rede ist.

(MM) Wow, gut aufgepasst! Ja, diese Geschichte (2. Mose 7-11) ist ein Beispiel dafür, wie lebensbedrohliche Naturereignisse als Gottes Machtwerkzeuge verstanden werden. Gott hatte Mose berufen, das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit zu führen. Der Pharao weigerte sich, Gottes Plan zu unterstützen. Dann kam die erste Plage: alle Gewässer wurden zu Blut, die Trinkwasserversorgung brach zusammen. Aber der Pharao „nahm´s nicht zu Herzen“. Auch nicht, als die Daumenschraube mit weiteren Plagen immer weiter angezogen wurde: Frösche, Stechmücken, Stechfliegen, Viehpest, Blattern, Hagel, Heuschrecken, Finsternis. Erst zum Schluss, als es dem Pharao persönlich ans Leder ging und sein Sohn, der Thronnachfolger, starb, knickte er ein. Die 10 Plagen werden also nicht im Sinne einer Strafe, sondern eher als Druckmittel von oben verstanden.

(VS) Wenn heute Menschen fragen, ob Corona eine Strafe Gottes ist, dann meinen sie das vielleicht auch so: ob Gott uns etwas damit sagen will; ob er uns damit ein Zeichen geben will, dass in der Welt etwas schief läuft; ob Corona uns wachrütteln soll, damit wir einsehen, was nicht stimmt?

(MM) Dann wäre Corona aber kein Justizakt eines strafenden Gottes, sondern der Rettungsversuch eines liebenden Gottes. So gesehen macht es Sinn zu schauen, was Corona auch an Gutem gebracht hat. „Entschleunigung“ ist so ein Stichwort. Wenn man bedenkt, wie rasant und hektisch das normale Leben für viele geworden war, wirkt Corona vielleicht heilsam. Kennen Sie die Geschichte: Eine Reisegruppe will den Dschungel erkunden. Ihr Gepäck wird von Ureinwohnern getragen. Am ersten Tag geht es zügig voran. Aber schon am zweiten Tag bleiben die Ureinwohner immer weiter hinter der Gruppe zurück. Schließlich bleiben sie sitzen. Auf die Frage, ob das ein Streik sei, ob sie vielleicht mehr Geld wollen, lautet die Antwort: Uns ist die Seele abhandengekommen und nun müssen wir warten, bis sie uns wieder eingeholt hat.

(VS) Corona – die nötige Handbremse, damit wir Menschen mal wieder mehr zu uns selbst kommen?

(MM) „Die Entdeckung der Langsamkeit“ heißt ein Roman von Sten Nadolny aus den 80ern. Den könnte man mal wieder lesen. Natürlich ist eine selbst gewählte Entschleunigung, wie z.B. Urlaub, etwas anderes als eine erzwungene. Viele sind durch Corona in ein Loch gefallen, wissen mit der vielen freien Zeit nichts anzufangen, leiden unter Beziehungskonflikten oder Einsamkeit. Aber das zeigt eigentlich, dass da im Grunde etwas nicht stimmt, was durch Corona auf den Tisch gekommen ist. Das ungeheure Tempo kann das Leben im Großen und im Kleinen aus dem Gleichgewicht bringen, wir verlieren die Aufmerksamkeit für uns selbst und füreinander und das muss irgendwann zum Kollaps führen (vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, 2013). Insofern kann man nur hoffen, dass die Corona-Handbremse heilsam wirkt. Und wer das dann mit Gott in Verbindung bringen möchte, in dem Sinne, dass die abhandengekommene Seele die Chance bekommt, uns wieder einzuholen – warum nicht?

(VS) Aus verschiedenen Ecken hört man ja die Worte, dass die Zeit nach Corona eine andere sein wird als vor Corona.

(MM) Corona ist ein Einschnitt. Die ganze Welt ist betroffen und dank der Medien weiß auch die ganze Welt, dass wir damit alle in einem Boot sitzen. Aber das heißt nicht, dass darauf nur Gleichgesinnte versammelt sind. Was löst Corona in uns aus? Einerseits hat die Krise zu mehr Solidarität geführt. Es ist doch genial, wie Wissenschaftler weltweit zusammenarbeiten, um einen Impfstoff zu entwickeln, wie viel Hilfsbereitschaft überall sichtbar wird, auch in unserer Gemeinde, wie viel Gutes in dieser Zeit überall entstanden ist. Großartig! Aber es gibt leider auch andere Beispiele, die zeigen, dass Corona zu mehr Egoismus und Abschottung führt. Die Krise bringt ans Licht, was für Menschen wir sind: ob unterm Strich in unserem Leben die Liebe oder die Angst das Sagen hat. Ich bin sehr gewiss, dass Gott mit uns das erste will.

(VS) Wie haben Sie die Corona-Krise bisher erlebt – persönlich und als Pastor in der Gemeinde?

(MM) Im persönlichen Leben hat sich dadurch nicht viel verändert. Wir – meine Frau und ich – haben uns an die Hygiene-Regeln gehalten. Corona hat, Gott sei´s gedankt – einen Bogen um uns, unsere Familien und Freunde herum gemacht. Umso mehr waren wir in unseren Gedanken und Gebeten bei den Betroffenen. Die Freiräume im beruflichen Bereich konnten wir sinnvoll nutzen. In der Kirchengemeinde mussten wir natürlich vieles bedenken und den Corona-Bedingungen anpassen. Wie überall, durften die Gruppen und Kreise sich nicht treffen. Aber dass wir Pastor/innen deshalb nichts zu tun gehabt hätten, kann man nicht gerade sagen. Wir haben uns erfinderisch gezeigt, haben auf andere Weise Kontakt zu den Menschen gehalten und dabei viele kreative Dinge und neue Ideen verwirklicht.

Ganz wichtig war uns, weiter regelmäßig Gottesdienste zu feiern. Weil das gemeinsam in der Kirche nicht möglich war, haben wir für jeden Sonntag und alle Festtage in der Passions- und Osterzeit Gottesdienste aufgezeichnet und über youtube gesendet. Dieses Angebot wurde von sehr vielen Menschen, auch von denen, die sonst kaum in der Kirche sind, dankbar angenommen, sogar auf Mallorca wurden unsere Gottesdienste regelmäßig angeschaut. Corona hat frischen Wind in die Gemeinde gebracht. Und das kann nun wirklich keine Strafe sein, sondern vielleicht sogar der Pfingstgeist.

Infobox
Seit Pfingsten feiern wir an jedem Sonn- und Feiertag wieder Präsenzgottesdienste. Damit möglichst viele Menschen daran teilnehmen können, finden bis auf weiteres alle Gottesdienste in unserer größten Kirche, der Martinskirche statt. Herzliche Einladung!

Besonders laden wir zum Open-Air-Gottesdienst am Erntedankfest ein. Am 27. September um 11.00 Uhr auf einem Bauernhof. Ein festlicher Gottesdienst unter Mitwirkung vieler Ehrenamtlicher, Landwirte aus der Gemeinde, musikalischen Akteuren und Ihrer Pastorinnen und Pastoren. „Kommet zuhauf …!“

Thema der Kolumne mit Pastor Marks in der nächsten Ausgabe: Spiritualität, Mystik und die Zukunft der Kirchengemeinde.

Matthias Marks