Auf der Suche nach dem Wir-Gefühl

„Geh einkaufen“, sagt meine Frau. „Unsere Töchter kommen zu Besuch.“ Die Töchter studieren verschiedene Fächer in verschiedenen Städten. Die mittlere Tochter kommt mit ihrem Partner. Derzeit leben wir noch zu dritt in unserem Haus: meine Frau, mein Sohn und ich.

„Was wollen wir essen?“, frage ich.

„Alles“, sagt meine Frau. „Kauf von allem etwas. Du weißt doch.“ Es hat schon vor 30 Jahren nicht gestimmt, als meine Frau und ich ein Paar wurden. Das mit dem Essen. Meine Frau ist schwäbisch geprägt: Spätzle und Maultaschen. Ich mag Kartoffeln und Kohl. Wenn ich meine Frau damals fragte, was wir kochen wollen, kam es vor, dass sie sagte: „Von welchem wir sprichst du? Von dir und deiner Mutter?“

 

Dann bekamen wir unsere drei Kinder. Sie entwickelten sich zu ganz eigenen Essern. Unser Sohn wünschte sich zum 15. Geburtstag einen Reiskocher. Sein Lieblingsessen ist noch immer Sushi. Die älteste Tochter ist sportlich, ernährungsbewusst und vegetarisch. Sie isst Salat und Gemüse. Die mittlere Tochter ist vegan. Kein Fleisch, kein Fisch, keine Butter oder Honig, Joghurt oder Milch. Und der Tochterfreund fügt sich da irgendwie ein.

 

Ich radle zum Discounter. Das ist mein bevorzugter Einkaufsort, weil es dort so gut wie keine Auswahl gibt und ich mich nicht zwischen verschiedenen Produkten entscheiden muss. Ich fühle dann etwas, das ich 'mein DDR-Gefühl' nenne.

Dabei mag ich eigentlich die Vielfalt. Ich erinnere mich an die Ankunft im Gare du Nord bei meiner ersten Interrailtour 1984. Wie sehr mich die Verschiedenartigkeit der Menschen auf den Pariser Straßen faszinierte – so viele fremde Gerüche, so viele fremde Sprachen. Wir Hamburger hatten zwar das Portugiesenviertel und in Altona viele Menschen, die Türkisch sprachen. Das war aber nichts gegen Paris.

Heute ist das anders. Radle ich von Rahlstedt nach Altona, durchquere ich unterschiedlichste Stadtteile: Wandsbek mit seinen Shisha-Bars und Asia-Läden, dann am Steindamm an den afghanischen und mittelasiatischen Läden entlang, hinter dem Hauptbahnhof vorbei an den Junkies, wie in jeder Großstadt, und am Pferdemarkt passiere ich die cornernde Jugend.

 

Der Tisch steht voller Schüsselchen, als wir uns zum Essen setzen: Reis, Nüsse, Rosinen, Bratkartoffeln, Krabben, Salat, Spaghetti, eingelegte Tomaten, Hühnchen, Tofu, Linsen, Avocado und Innereien für das Frettchen, das Haustier vom Tochterfreund. Auf dem Rückweg vom Discounter war ich noch im asiatischen Supermarkt. Die Auswahl dort ist gigantisch.

Beim Anblick der vielen Schüsselchen kommt mir plötzlich der Mengenlehrenunterricht meiner Grundschulzeit in den Kopf. Ich erinnere mich an Kreise, die sich überschneiden: Schnittmengen. Ich bin eine Schnittmenge mit allem, denke ich und greife in jedes Schüsselchen. Nur die Innereien lasse ich aus. Das Frettchen tigert in seinem Käfig herum und faucht, wenn der Tochterfreund ihm etwas zuwirft. Ich sitze da und stippe mein Baguette in die Olivenpaste.

„Was machst du?“, fragt mich mein Sohn.

„Ich bilde Schnittmengen“, sage ich. „In Gedanken.“ Er grinst mich an. Eine Ölspur führt von der Olivenpaste über die Tischdecke zum Aiolitöpfchen, und weiter bis zur Sardinen-Zitronen-Paste. Auch auf meiner Hose ist Öl.

„Du machst nachher die Wäsche“, sagt meine Frau.

„Selbstverständlich“, antworte ich, weil ich sowieso immer die Wäsche mache. „Schön, dass wir uns alle hier treffen und gemeinsam essen!“, hebe ich mein Glas.

„Nur scheiße, dass hier immer noch Fleisch, Fisch und Butter gegessen wird“, sagt die mittlere Tochter. Der Tochterfreund leint das Frettchen an und geht in den Garten.

Schnell erzählt meine Älteste von dem Demenzdorf, in dem sie diesen Sommer ein Praktikum machen wird. Ein ganzes Dorf voller Verwirrter. Soll das so, darf das so sein?, überlegen wir gemeinsam. Ist es besser, frei im Demenzdorf, als auf einer Station in der Stadt eingesperrt zu werden? Ein ganzes Dorf voller Patienten. Wo bleibt da die Inklusion? Wo bleibt da die Vielfalt? Vielfalt schließt ja alles ein. Uns selbst in unserer zufälligen Genetik und auch alle Anderen.

Dann erzählt mein Sohn vom Supermarkt. Er jobbt dort an der Kasse. Heiraten Sie niemals eine Frau, die dasselbe arbeitet wie Sie! Das hat ihm heute eine alte Dame geraten. Ich habe im Finanzamt gearbeitet, genauso wie mein Mann. Was hatten wir für eine fürchterliche, langweilige Ehe! Tun Sie sich das nicht an.

Mein Schwiegersohn in Spe hat beim Essen gar nichts gesagt, denke ich beim Befüllen der Waschmaschine. Aber er geht gut mit dem Frettchen um. Und meine Tochter wirkt auch zufrieden.

Das Gegenteil von Vielfalt ist Einfalt, überlege ich. Und einfältig will niemand sein.

Ich drücke auf Start. In die Maschine strömt das Wasser ein.

Alexander Posch